Page 38 - Ausgabe 111 / November 2021
P. 38
Anzeige
halb nicht nur nach modernen Maßstäben beurteilt werden, sondern auch nach dem Zeitgeist der frühen Neuzeit und ihren Be- dingungen. Es war eine Zeit des Umbruchs und der Veränderungen um 1500. Die Er- findungen und Entdeckungen des Renais- sance-Zeitalters hatten das Weltbild und die spätmittelalterliche Welt gravierend verän-
Szene mit Luther auf dem Wormser Reichstag 1521 (Relief auf dem
Wormser Reformationsdenkmal)
dert. Begleitet wurde diese Entwicklung von einem Gefühl der Unsicherheit in der Be- völkerung und der Sehnsucht nach Orien- tierung und kirchlichem Trost. Es war eine Epoche des Aberglaubens: der Angst vor He- xen, Fegefeuer und Weltuntergang, mit Wun- derglauben, Sterndeutung, Wallfahrten und ho-
Eberhard Jung, der Autor dieses Beitrags, auf Spurensuche im heutigen Wormser Heylshof- park (ehemals Bischofshof), dem historischen Ort, an dem Luther am 17. und 18. April 1521 den Widerruf seiner Schriften verweigerte
her Spendenbereitschaft für das Seelenheil im Jenseits. Man war höchst unzufrieden mit herr- schaftlichen Zwängen und kirchlichen Miss- ständen, Prachtentfaltung, Raff- und Profitgier. Eine besondere Ehrung erfährt der Reforma-
Das Museum der Stadt Worms im Andreasstift als Schauplatz der Landesausstellung „Hier stehe ich.
Gewissen und Protest – 1521 bis 2021“
tor zurzeit in der Wormser Landesausstellung „Hier stehe ich. Gewissen und Protest – 1521 bis 2021“. Sie nimmt Luthers Weige- rung auf dem Wormser Reichstag, seine Papst- und Kirchenkritik zu widerrufen, zum Anlass, sich mit der Entwicklungsgeschichte
der Gewissensfreiheit, des Protests und der Zivilcourage von Luther bis zur Gegenwart auseinanderzusetzen. Dazu gibt es ein um- fangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen,
Im Heylshofpark: die begehbare Bronze- skulptur „Die Großen Schuhe Luthers“,
in die man hineinschlüpfen kann –
ein Symbol für die Standhaftigkeit und große Bedeutung des Reformators
neuen Publikationen, einem „Bildungs- und Erlebnisparcours“ und vielen Sonderaktio- nen – trotz Corona-Pandemie. Im Mittel- punkt der Ausstellung, die vom 3. Juli bis 30. Dezember 2021 im Museum der Stadt Worms (im Andreasstift) gezeigt wird, steht Luthers spektakulärer Aufenthalt in Worms. Es geht aber auch um seinen Mythos als mu- tiger Reformator und um weitere bedeutende
In Worms befindet sich das größte Reformationsdenkmal der Welt –
mit Luther im Zentrum, umgeben von Fürsten, Gelehrten, Vorrefor- matoren und Personifikationen von Städten
Persönlichkeiten, die sich in den vergange- nen 500 Jahren entschlossen für demokrati- sche Ideale einsetzten. Luthers Wormser Auf- tritt war lebensgefährlich. Papst Leo X. ver- fügte den Kirchenbann über den vermeintli- chen „Ketzer“, also den Ausschluss aus der Kirche. Kaiser Karl V. ächtete ihn im Worm- ser Edikt. Damit galt er als vogelfrei und konnte von jedermann straffrei getötet wer- den. Seine Gegner planten zahlreiche Mord-
Die bekannteste deutsche Burg:
die Wartburg, das Weltkulturerbe oberhalb von Eisenach (in Thüringen)
anschläge, angestachelt vom Papst, der ihn als „Wildschwein“ im „Weinberg des Herrn“ diffamierte. Luther wurde aber – anders als Jan Hus ein Jahrhundert zuvor (1415) – nicht als Ketzer verbrannt. Sein einflussreicher Für-
sprecher, Kurfürst Friedrich der Weise, der bereits freies Geleit für seinen Schützling durchgesetzt hatte, ließ ihn auf der Rückreise von Worms nach Wittenberg entführen und auf der Wartburg festsetzen. Dort lebte er im unfreiwilligen Exil ein knappes Jahr in- kognito unter dem Decknamen Junker Jörg. Er ließ sich seine Tonsur zuwachsen und ei- nen Bart sprießen, was ihm jedoch sehr missfiel. Nur wenige waren über diesen meisterhaften Schachzug seines kurfürstli- chen Landesherrn eingeweiht. Mit der fin- gierten Entführung konnte er seinen Schütz- ling retten, ohne einen Konflikt mit dem Kai- ser zu riskieren. Luther galt als verschollen und konnte auf der Wartburg ungestört seine reformatorischen Ideen weiterentwickeln und das Neue Testament in eine allgemein verständliche und sehr bildhafte deutsche Sprache übersetzen. Damit leistete er nicht nur einen bedeutenden theologischen Bei- trag, sondern machte sich auch um die Ver- einheitlichung und Weiterentwicklung der
Sockelrelief auf dem Luther-Denkmal in Eisenach: der Reformator als Junker Jörg auf der Wartburg bei der Übersetzung des Neuen Testaments
Landessprache verdient. Dieses Glück der Protektion durch den Landesherrn hatten die meisten Vorkämpfer(innen) für Freiheit, Gleichberechtigung und bessere Lebensbe- dingungen nicht. Die Wormser Ausstellung zeigt einige repräsentative Beispiele: Olympe de Gouges, die streitbare Schriftstellerin und Frauenrechtlerin während der Französischen Revolution, den Vormärz-Schriftsteller Georg Büchner („Friede den Hütten! Krieg den Pa- lästen!“), Sophie Scholl, die Widerstands- kämpferin der „Weißen Rose“ während des Dritten Reiches, die Bürgerrechtler Martin Luther King (USA) und Nelson Mandela (Südafrika) u.v.a.
Auch heute noch sind mutige Menschen er- forderlich, die – meist gegen den Widerstand der Mächtigen – die zahlreichen Probleme der Gegenwart aufzeigen und bekämpfen: Ausbeutung und diktatorische Machenschaf- ten, Menschenrechtsverletzungen, Betrug, Korruption und Amtsmissbrauch, Gewalt, Terror und Krieg, Respektlosigkeit, Armut, Umweltverschmutzung, Klimawandel usw. Sie hätten mehr Unterstützung der breiten Massen verdient. Die Wormser Ausstellung bietet viele Denkanstöße dazu und ist daher sehr empfehlenswert. Sie kann noch bis zum Jahresende besucht werden. Eberhard Jung
Ausgabe 111 / November 2021
38