Page 26 - Ausgabe 113 / Januar 2022
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 Spuren der Freiheit und Unterdrückung
Wie die Berliner dem Leben mit Humor begegnen
2. Teil
Wohnverhältnisse im Proletariermilieu hat Zille mit viel Mitgefühl, Sarkasmus, Esprit und „Berliner Schnauze“ dargestellt. Die Schlagfertigkeit der Armen und ihr Lachen wirken wie eine Medizin, die kurzfristig die Not vergessen lässt.
Das Borsigtor als Eingang zum ehemaligen Borsig-Industriegelände in Berlin-Tegel
„Mutter, was kochste?“, fragt da im Bildtext ein nacktes Kind, das auf einem Bett steht. „Wäsche, du Dummkopf!“, erwidert die Frau am Küchenherd. „Schmeckt n det jut?!“, will die Kleine wissen. Eine andere Zille-Zeich- nung präsentiert eine Wirtshausszene: Eine frustrierte korpulente Dame sagt einem
2003 schuf der damalige Regierende Bür- germeister von Berlin, Klaus Wowereit, den eindrucksvollen Werbeslogan „Berlin – arm, aber sexy“. Er wurde zum wichtigsten Satz seiner Karriere, zum Lockruf für Investoren und Touristen. Bis zur Gegenwart wird heftig darüber diskutiert. Heutzutage erscheinen die Adjektive „resilient und sexy“ wohl an- gemessener. Nach dem kurzen Rausch des Mauerfalls (1989) und der Einheitseuphorie (ab 1990), politischen Höhenflügen und
„Berlin – arm, aber sexy“: Wandgemälde im Innenhof des Hotels „Innside Berlin Mitte“
„grenzenloser“ Aufbruchstimmung folgten bald in vielen Bereichen jähe Abstürze, Plei- ten, Arbeitslosigkeit und Desillusionen. Trotzdem wird in Berlin unablässig gefeiert, das Nachtleben brummt und der Charme der kulturellen Vielfalt garantiert ein hohes Maß an Attraktivität. Investitionen auf Pump, fragwürdiger Umgang mit Steuergeldern,
Angesichts der vielen Probleme steht der Ber- liner Bär, das Wappentier der Weltstadt, in der Nähe des Hackeschen Marktes kopf
Schuldenberge, Mietwucher, erbärmliche Wohnquartiere und unübersehbare Armut – all diese langjährigen Probleme werden oft verdrängt oder nur unzureichend angepackt.
Pessimisten ziehen bereits 2021 fragwürdige Vergleiche zu den Goldenen Zwanzigern des 20. Jahrhunderts. Diese Ambivalenz zwi- schen Glanz und Elend ist nicht neu. Der Berliner Kultmaler, Grafiker und Fotograf Heinrich Zille (1858-1929), „Pinsel-Hein- rich“ genannt, beobachtete das Berliner Ar- me-Leute-„Milljöh“ der „glorreichen“ Kai- serzeit mit großer Leidenschaft und doku- mentierte es lokalpatriotisch, humorvoll und sozialkritisch. Seine Bilder und Texte wid- men sich dem Kampf ums tägliche Überle- ben in Elendsvierteln, Mietskasernen, dunk- len Hinterhöfen, auf engen Straßen, im Frei- bad oder am Havelstrand. Mit Alkohol ver- suchte man, Probleme aufzuschieben, und Prostitution diente als lukrativer Nebener- werb, um mehr „Wirtschaftsgeld“ zu ergat- tern. Existenzielle Abgründe und beengte
    Berlin als Touristenmagnet: Nicht nur Schulklassen sind begeistert
von der Bundeshauptstadt. Hier eine Projektgruppe des Saarpfalz-Gymnasiums mit ihrem Lehrer Eberhard Jung beim Tag der offenen Tür im Bundeskanzleramt (2013)
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