Page 12 - Ausgabe 116 / April 2022
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 Spuren der Freiheit und Unterdrückung
Wie die Berliner dem Leben mit Humor begegnen
Teil 5
und anderen Missliebigen (Homosexuelle, Sinti, Roma usw.) – bis hin zum Völkermord in besetzten Gebieten. Vorbei war nun die Zeit, die Marie Juchacz, die Gründerin der Arbeiterwohlfahrt und eine der ersten Poli- tikerinnen im Reichstag (SPD), 1919 folgen- dermaßen beschwor: „Je mehr gute Taten wir zusammenbringen, umso besser wird die Welt.“
Die rechtsradikalen Nationalsozialisten gin- gen mit äußerster Brutalität und bisher nicht gekanntem Fanatismus vor, um das eigene
Das Jüdische Museum in Berlin – mit außer- gewöhnlicher Architektur, immenser Ausstel- lungsfläche und interessanter Gartenanlage – stellt die jüdische Geschichte im Spannungs- feld zwischen Antisemitismus
und Emanzipation dar.
Volk für ihre machtpolitischen Ziele gefügig zu machen und Gegner auszuschalten. Der Diktator Hitler belebte das Motto des grö- ßenwahnsinnigen römischen Kaisers Cali- gula (37-41) wieder: „Oderint, dum me- tuant.“ – „Sie mögen (mich) hassen, solange sie (mich) nur fürchten“. Weitsichtige Zeit- genossen, vor allem Juden und Systemkriti-
 „Wird’s besser? Wird’s schlimmer?“, fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: „Leben ist immer lebensgefährlich.“ – Diese Weisheit stammt von Erich Käst- ner (1899-1974), der in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in Ber- lin eine sehr produktive Schaffensphase als Schriftsteller, Lyriker, Journalist, Dreh- und Kinderbuchautor erlebte.
 Für einige seiner Geschichten wählte er die deutsche Hauptstadt als Schauplatz, z.B. „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“ und „Fabian“. Seine kritische und antimilitaristische Einstellung interpretierten die Nazis allerdings als Dekadenz und mo- ralischen Verfall. Daher fiel Kästner bei ihnen in Ungnade, doch er emigrierte trotz Zensur und Berufsverbot nicht, sondern blieb – im Gegensatz zu vielen seiner geächteten Kol- leg(inn)en – beharrlich in Berlin und wollte später als Zeitzeuge über die Ereignisse in der totalitären Diktatur Zeugnis ablegen. Als seine Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Ber- liner Opernplatz (heute: Bebelplatz) gegen- über dem Universitätsgelände verbrannt wurden, war er in unmittelbarer Nähe selbst dabei und schrieb später dazu: „Begräbnis- wetter hing über der Stadt.“
Nirgendwo in Deutschland kann man unsere Nationalgeschichte seit dem 19. Jahrhundert so intensiv, hautnah und spannend miterle- ben und nachvollziehen wie in Berlin. In keiner anderen deutschen Stadt gibt es eine derartige Vielzahl schicksalhafter Schauplät- ze und Gedenkstätten. Im Dritten Reich war Berlin die Zentrale der nationalsozialisti- schen Jahrhundertverbrechen, die Stadt der Täter, aber auch der Opfer, der Widerstands- kämpfer und im Zweiten Weltkrieg der Ort
kulturelle Glanz der Goldenen Zwanziger verblasste rasant und konnte die politische Zerrissenheit und wirtschaftliche Not Deutschlands nicht mehr überstrahlen. Die hohe Arbeitslosigkeit förderte den Siegeszug der Nationalsozialisten. Von Berlins Gaulei- ter Joseph Goebbels, dem skrupellosen De- magogen, angestachelt, waren hemmungs- lose Saal- und Straßenschlägereien zu Be- ginn der 30er Jahre an der Tagesordnung. Die Nazis bedienten die weit verbreitete Sehnsucht nach dem starken Mann und machten Hoffnung auf ein besseres Leben – mit Ordnung, Frieden, Sicherheit und neuen Arbeitsplätzen.
Am 30. Januar 1933 kam Adolf Hitler in Ber- lin legal an die Macht. Sein ehrgeiziges Ziel als Reichskanzler war die Errichtung einer nationalsozialistischen Diktatur. Beim Einzug in die Reichskanzlei soll er gesagt haben,
Kuppel der prächtigen Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße – ein Schmuckstück im Berliner Stadtbild dass ihn keine Macht der Welt hier jemals lebend wieder herausbringen werde. In der Parteipropaganda der NSDAP wird ihm 1933 die Aussage zugeschrieben: „Gebt mir vier Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen!“ Viele ahnten damals noch nicht die Schnelligkeit und das Ausmaß an Radikalität und Unerbittlichkeit seiner Maß- nahmen. In wenigen Monaten wurde die Weimarer Demokratie ausgehöhlt und in ei- nen totalitären Führerstaat umgewandelt. So entstand auf deutschem Boden eine Welt der Tyrannei mit Führerkult, Lügenpropagan- da, Einschüchterung der Bevölkerung, Über- wachung, Zensur, Menschenrechtsverletzun- gen, Willkürjustiz, Antisemitismus (Juden- hass), Verfolgung von politischen Gegnern
   Mahnmal zur Bücherverbrennung 1933 mit leeren Regalen auf dem Berliner Bebelplatz
mit den meisten Zerstörungen auf deut- schem Boden. Der nationalsozialistische Alptraum nahm bereits 1929 mit der Welt- wirtschaftskrise zunehmend Fahrt auf. Der
Das Heinrich-Heine-Denkmal am Kastanien- wäldchen hinter der Neuen Wache. Heine hatte von 1821 bis 1823 an der Berliner Universität studiert.
ker, flüchteten bereits nach seiner „Macht- übernahme“ oder nach dem Reichstags- brand (im Februar 1933). Im Rahmen der Gleichschaltungspolitik wurden wichtige Ämter mit Parteigenossen besetzt und es gal- ten die Parolen: „Führer befiehl, wir folgen dir!“– „Ein Volk, ein Reich, ein Führer.“ Kri-
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