Die Schuldfrage Teil 10
Schreckenstage in Neunkirchen als der Gasometer explodierte
Im nächsten Teil des Gutachtens beschäftigte sich Gewerberat Jacobi mit der Frage, ob die bisher geschilderten Arbeiten, die ja für die Vorexplosion und damit letztlich auch für die Hauptexplosion ursächlich waren, als Fahrlässigkeit im Sinne des Strafgesetzbuches anzusehen waren.
Die für solche Arbeiten erlassenen Vorschriften der Berufsgenossenschaft lauteten:
§ 574: Um die Entzündung des abgelagerten Naphtalins im Gasbehälter zu vermeiden, ist die Reparatur des Behälters im Innern unter Anwendung von offenem Licht oder Feuer oder durch Einziehen heißer Nieten erst dann auszuführen, wenn angesammeltes Naphtalin vollständig durch Abspritzen oder auf andere Weise entfernt ist.
Diese Vorschrift konnte sinngemäß auch auf die Arbeiten an Gasrohren angewandt werden.
§ 588 Außer Betrieb gesetzten Apparaten - auch Gasmessern - in denen sich vorher Gas befand, darf eine offene Flamme nicht eher genähert werden, bis jede Gefahr der Explosion durch ausreichende Lüftung, durch Überspülen mit Wasser oder durch andere geeignete Mittel beseitigt ist.
Auch diese Vorschrift konnte sinngemäß auf die Arbeiten an Gasrohrleitungen angewandt werden.
Gegen die obigen Vorschriften ist in unserem Fall nicht verstoßen worden, da das vorher in den Rohren gewesene Naphtalin, ebenso das dort gewesene Gas, bevor man an die Bearbeitung der Rohre heranging, einwandfrei beseitigt worden ist. Weitere Bestimmungen der Berufsgenossenschaft oder sonstige Bestimmungen gibt es für den vorliegenden Fall nicht. Künftighin werden natürlich weitergehende Bestimmungen zu erlassen sein.
Aus den obigen Bestimmungen geht bereits hervor, dass Feuerarbeiten in solchen Gegenständen, in denen vorher Gas oder Naphtalin war, prinzipiell erlaubt sind. Vorgeschrieben ist nur, dass Naphtalin und Gas vor den Feuerarbeiten einwandfrei entfernt werden. Daher ist es bisher auf Hüttenwerken Gepflogenheit gewesen, dass an gasleeren, gasgereinigten Gasrohren Feuerarbeiten verrichtet wurden, ohne dass die Aufsichtsbehörden dagegen eingeschritten sind. Aus diesem Grund hat wahrscheinlich auch der verantwortliche Leiter der Arbeiten Ingenieur Trill keine Bedenken gehabt, an dem Umgehungsrohr, als dasselbe bereits wieder aufmontiert war, noch Schweißarbeiten vornehmen zu lassen.
Im vorliegenden Fall war die Gewähr für ein gefahrloses Arbeiten an der Rohrleitung jedoch nur dann gegeben, wenn neben den vorhin erwähnten Reinigungen auch dafür gesorgt war, dass kein neues Gas in das gasleere Rohr eindringen konnte. Unbedingt war die Gewähr hierfür in vorliegendem Falle nicht gegeben. Zwar kann die Blindscheibe zwischen Gasaustrittsrohr und Umgehungsrohr, wenn sie richtig angebracht war, woran ja wohl nicht zu zweifeln ist, als eine unbedingt zuverlässige Abdichtung gelten. Der Schieber kann jedoch nur als bedingt zuverlässig gelten. Man kann daher wohl sagen, dass ein besonders vorsichtiger Ingenieur die Schweißarbeiten an dem Umgehungsrohr nicht hätte ausführen lassen. Der normale Ingenieur jedoch dürfte im vorliegenden Fall so gehandelt haben wie Herr Trill d.h. er dürfte ohne Bedenken an die erwähnten Schweißarbeiten herangegangen sein. Dass später auch in der Nähe des Schiebers Brennarbeiten, allerdings nicht am Rohr selbst, sondern in dessen unmittelbarer Nähe, ausgeführt worden sind, dafür ist Trill nicht verantwortlich zu machen, da er bei der Auftragserteilung zu diesen Arbeiten nicht vorhersehen konnte, dass hier gebrannt werden würde. Es ist möglich, dass Trill wenn er vorher gefragt worden wäre, Brennarbeiten in der Nähe des Schiebers an dieser Stelle nicht zugelassen hätte. Bezüglich der Verantwortung des Herrn Trill für das Dichtsein des Schiebers ist zu sagen, dass auf Grund der Zeugenaussagen angenommen werden muss, dass der Schieber bis zu der Zeit, wo schwere Klopfarbeiten an dem Rohr in der Nähe des Schiebers vorgenommen worden sind, tatsächlich dicht war und dass er, wie bereits oben ausgeführt, wahrscheinlich erst durch die Klopfarbeiten undicht geworden ist. Hierfür kann Trill jedoch nicht verantwortlich gemacht werden, da er bei der Auftragserteilung für die Verflanschungsarbeiten nicht voraussehen konnte, dass derart heftige Klopfarbeiten bei den Verflanschungsarbeiten erforderlich sein würden. Auch kann man Trill nicht zum Vorwurf machen, dass er, weil er mehrere Stunden nicht an dieser Arbeitsstelle war, seine Aufsichtspflicht versäumt habe. Trill hat insgesamt etwa 80 Arbeiter unter sich, die auf einen großen Teil der Hütte zerstreut in kleinen Kolonnen arbeiten. Er kann natürlich bei all diesen Arbeitsstellen nicht zugleich anwesend sein. Er wird stets dort anwesend sein, wo schwierige Entschlüsse zu fassen sind. Die am Nachmittag des Unglückstages zu tätigen Verflanschungsarbeiten an dem Umgehungsrohrmschienen aber vorher so einfach zu sein, dass Trill annehmen konnte, dass die Arbeiten ohne Bedenken den zwei Arbeitern mit Vorarbeiter überlassen werden konnten. Ähnlich so liegen auch die Verhältnisse für Meister Bitsch. Auch der mitarbeitende Vorarbeiter Schmitt war an zwei Arbeitsstellen beschäftigt, an denen er mithelfen musste. Auch Schmitt konnte infolgedessen nicht dauernd an dieser Arbeitsstelle sein.
Dass der Schlosser Schneider sich dazu entschlossen hat, an der erwähnten Stelle Brennarbeiten auszuführen, war ohne Zweifel ein Missgriff. Ob er selbst dafür verantwortlich zu machen ist, oder der Vorarbeiter Schmitt ist nach den Aussagen der Beiden noch zweifelhaft. Zu seiner Entschuldigung kann Schneider anführen, dass es ihm unmöglich war, die Gefahr zu erkennen, dass er vielmehr aus der Tatsache, dass einige Stunden vorher an der gleichen Leitung auf Anordnung des leitenden Ingenieurs Schweißarbeiten verrichtet worden sind, die Ungefährlichkeit der von ihm vorgenommenen Brennarbeiten folgern musste, die zudem nicht einmal am Rohr selbst, sondern an dem Bügel, auf dem das Rohr ruhte, vorgenommen wurden. Von der Gefährlichkeit der Nähe des Schiebers und der dadurch gegebenen Möglichkeit der Bildung eines gefährlichen Explosionsherdes sei ihm nichts bekannt gewesen. Offenbar war ihm von all diesen Dingen tatsächlich nicht bewusst, denn er hat sich ja selbst in Lebensgefahr begeben, was er sicher nicht getan hätte, wenn er sich dessen bewusst gewesen wäre. Für die übrigen an diesen Arbeiten beschäftigten Leute (Meister Bitch, Güldenbacher und Vorarbeiter Schmitt, für den letzteren, falls seine Angaben bezüglich Schneider stimmen) kommt Fahrlässigkeit nicht in Frage.
Fortsetzung folgt; Quellenangabe am Ende der Reihe
Ein Bericht von Wolfgang Melnyk / Horst Schwenk