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Durchhaltevermögen. Er war kunstsinnig, ideenreich und zeigte menschliche Schwä- chen – das machte ihn sympathisch. Der ex- treme Vater-Sohn-Konflikt zwischen dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., der
Das Abgeordnetenhaus in Berlin mit den bei- den Bronzestandbildern zu Ehren der preußi- schen Reformer Karl Freiherr vom Stein (1757– 1831, links) und Karl August Fürst von Hardenberg (1750–1822)
ein Faible für die „langen Kerls“ als Leibgar- de hatte, und dem schöngeistigen jungen Friedrich erregte allgemeines Mitleid. Hö- hepunkt der Demütigung war die von sei- nem Vater befohlene Hinrichtung seines Freundes Katte vor den Augen des sensiblen Kronprinzen. Friedrich wurde zunehmend depressiv und zynisch, war nach seiner Ehe- schließung unfähig zu einer harmonischen Beziehung, versagte als Familienmensch und vereinsamte als „Alter Fritz“ immer mehr. Er bot mit seiner Frauenfeindlichkeit und Men- schenverachtung sowie seinem trockenen Humor allerlei Stoff für Klatsch und Anek- doten. Gemäß seinem letzten Willen wurde er im Park seiner Potsdamer Sommerresidenz Sanssouci neben seinen Windhunden be- stattet. Er war der Auffassung: „Hunde haben alle guten Eigenschaften des Menschen, oh-
Überreste der Berliner Mauer vor dem Aus- stellungsgelände „Topographie des Terrors“
ne gleichzeitig ihre Fehler zu besitzen.“ Von ihm stammen auch die Sentenzen: „Der Aberglaube ist ein Kind der Furcht, der Schwachheit und der Unwissenheit.“ – „Ein unterrichtetes Volk lässt sich leicht regieren.“ – „Erfahrungen nützen gar nichts, wenn man keine Lehren daraus zieht.“ – „Gewissheit erlangt man nicht vom Hörensagen.“ – „We- nige Menschen denken, und doch wollen alle entscheiden.“ – „Man müsste es dahin bringen, dass sich alle Menschen des Fana- tismus und der Intoleranz schämen.“ Als Atheist war es ihm egal, welche Arten von Gotteshäusern in seinem Land standen. Hei- den, Juden, Muslime, Protestanten und Ka-
tholiken – sie alle waren im protestantischen Preußenland willkommen. Er dachte staats- männisch: „Wäre nur eine Religion in der Welt, so würde sie stolz und zügellos des- potisch sein.“ Migranten begrüßte er unter der Bedingung, dass sie seinem Land Gutes bringen, sich anständig benehmen und die Wirtschaft ankurbeln. Jeder sollte im Glau- ben „nach seiner Fasson selig werden“. Die Folter als Verhörmethode wurde endgültig abgeschafft und das Flächenland Preußen, das über keine nennenswerten Bodenschät- ze verfügte, investierte weitblickend in Bil- dung und Infrastruktur. Mit seinen Idealen wirkte er auch inspirierend auf die preußi- schen Reformer des folgenden Jahrhunderts, die im Kampf gegen die Fremdherrschaft Na-
Teil der Open-Air-Ausstellung im Gelände „Topographie des Terrors“
poleons in den Jahren 1807-1815 eine Er- neuerungsbewegung einleiteten. Mit ihren aufklärerischen Grundgedanken schufen sie die Voraussetzung für den Wandel Preußens vom veralteten Stände- und Agrarstaat zum modernen National- und Industriestaat. Die Maßnahmen zielten auf die Selbstverwal- tung der Städte, eine Umstrukturierung und Vereinheitlichung der Verwaltung, die Bau- ernbefreiung und Gewerbefreiheit, die Ju- denemanzipation, Heeres- und Bildungsre- form. Wilhelm von Humboldt versuchte, das
Der Martin-Gropius-Bau mit seiner kunstvol- len Fassade (gegenüber dem Berliner Abgeordnetenhaus)
Ständesystem durch Bildung und Aufstiegs- chancen für alle motivierten und leistungs- fähigen Bürger zu überwinden. Er gründete unter anderem 1809 die Berliner Universität, um das Bildungsniveau zu heben, For- schungsimpulse zu setzen und qualifizierte Gymnasiallehrer zu bekommen. Eine Viel- zahl von Nobelpreisträgern gingen bis heute aus dieser Universität hervor. Vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität in der Prachtstraße Unter den Linden erinnern
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 die Statuen der Brüder Wilhelm und Alexan- der von Humboldt an zwei tolerante Welt- bürger und humanistische Gelehrte mit vor- bildlichen Aufklärungsidealen. Ebenso kün- den die repräsentativen Standbilder der preu- ßischen Reformer Karl Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg vor dem Abgeordnetenhaus, in dem das Berliner Lan- desparlament tagt, von ihrer hohen Wert- schätzung bis in die Gegenwart. Das Abge-
Der schmiedeeiserne Reichsadler am Gelän- der der Weidendammbrücke über der Spree, ein repräsentatives Relikt aus der Kaiserzeit
ordnetenhaus befindet sich in Berlin-Mitte in der Niederkirchnerstraße, die nach Käthe Niederkirchner benannt ist, einer kommu- nistischen Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Im Dritten Reich trug sie den Namen Prinz-Albrecht-Straße und galt als Synonym für den nationalsozialisti- schen Terrorstaat, denn hier war der Sitz der Gestapo-Zentrale mit dem berüchtigten Ge- fängnis, des Reichssicherheitshauptamts und der SS. In diesen Machtzentralen der Natio- nalsozialisten wurden Terroraktionen in ganz Europa geplant und organisiert. Die Ausstel-
Der unter Kaiser Wilhelm II. entstandene Ber- liner Dom, die Hauptkirche des preußischen Protestantismus (mit Museum und umfang- reicher Hohenzollerngruft), ist die Berliner Antwort auf den Petersdom in Rom. lung „Topographie des Terrors“ in den frei- gelegten Grundmauern der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gestapo-Zentrale do- kumentiert heutzutage die grauenvollen Ge- schehnisse, welche die zivilisierte Welt em- pörten und sie in Angst und Schrecken ver- setzten. Während der Spaltung Berlins verlief ab 1948 entlang dieser unrühmlichen Straße die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin, die von 1961 bis 1989 durch die Mauer
sichtbar wurde.
Das Abgeordnetenhaus weist eine sehr wechselvolle Geschichte auf: Es hieß von 1899 bis 1918 „Preußisches Abgeordneten-
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