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haus“ des Königreichs Preußen und von 1918 bis 1933 „Preußischer Landtag“ des Freistaats Preußen. In der Zeit des Dritten Reiches (1933-1945) wurde das Gebäude zeitweise vom Volksgerichtshof und vom Reichsluftfahrtministerium genutzt. Im Zwei- ten Weltkrieg wurde es schwer beschädigt, von der DDR teilweise wiederaufgebaut und unter anderem für den Dienst des Ministeri-
Im „Café Berlin“ der Künstlerin Katja Wiede- mann in der Oranienburger Straße: eine Au- genweide mit farbenprächtigen Gemälden, Plakaten, Dekorfliesen, Tassen, Untersetzern, Lampen und vielen Souvenirs mit Berliner Motiven
ums für Staatssicherheit eingerichtet. Seit der Wiedervereinigung beherbergt das „Abge- ordnetenhaus von Berlin“ nach einer um- fangreichen Renovierung das Berliner Lan- desparlament. Es befindet sich gegenüber dem Martin-Gropius-Bau, einem der bedeu- tendsten deutschen Museumsgebäuden aus dem 19. Jahrhundert. Hier fand von 1881 bis 1885 die deutsche Erstausstellung des spektakulären Schatzes des trojanischen Kö- nigs Priamos statt, den Heinrich Schliemann
nach Berlin gebracht hatte.
Das Deutsche Kaiserreich, das nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich (1870/71) am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles ausgerufen wurde und nach
Dekorfliesen im „Café Berlin“ mit Motiven aus den Goldenen Zwanzigern: Marlene Dietrich (links) und Josephine Baker
dem Ersten Weltkrieg am 9. November 1918 unterging, war ein militaristischer Unterta- nenstaat – mit den preußischen Königen (Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II.) als deutsche Kaiser und Berlin als Haupt- und Residenzstadt. Die Reichshauptstadt er- lebte in der Kaiserzeit einen rasanten Ent- wicklungsschub zur pulsierenden Weltme- tropole: mit Weltpolitik, wirtschaftlichen Hochleistungen im Rahmen der Industriellen Revolution, ungezügelter Zuwanderung, kul- tureller Vielfalt, beeindruckenden naturwis-
senschaftlichen und medizinischen Höhen- flügen – bis hin zum nationalistischen Grö- ßenwahn, der in zwei ruinösen Weltkriegen (1914-1918 und 1939-1945) gipfelte. Da- zwischen, vor allem in den Goldenen Zwan- zigern (1924-1929) der Weimarer Republik, erlebte Berlin eine kurze Atempause der kreativen Erneuerung. Nach dem Untergang des Kaiserreichs sehnte sich die Bevölke- rung, sichtbar kriegsmüde und traumatisiert, nach dauerhaftem Frieden, einer gerechten Welt mit demokratischer Grundordnung,
(Un-)Friedensvertrag und maßlose Repara- tionen, die zur Desillusionierung und zum Verlust von Sicherheiten führten. Vor allem nach der Weltwirtschaftskrise 1929 mit ihren dramatischen Folgen (extreme Arbeitslosig- keit, Pleitewelle usw.) sehnte man sich nach dem „starken Mann“, der für Ruhe und Ord- nung sorgt und die nationale Ehre wieder- herstellt. So glich die Aufbruchstimmung der Goldenen Zwanziger einem Tanz auf dem Vulkan. Denn die Deutschen gingen dem „Rattenfänger“ Adolf Hitler auf den Leim, der Frieden und bessere Zeiten versprach,
In der Berliner Rosenstraße, zwischen dem Hackeschen Markt und dem Alexanderplatz, erinnert seit 1995 das Denkmal „Frauenprotest 1943“ an den erfolgreichen Widerstand gegen die Verschleppung von Juden
aber zum Krieg rüstete und die Menschheit in bisher nicht bekanntem Ausmaß ins Un- glück stürzte. Am 30. Januar 1933 kam er in Berlin legal an die Macht und die gefürch- teten SA-Truppen feierten seine Ernennung zum Reichskanzler mit einem Fackelzug durch das Brandenburger Tor. Diese Parade
Eberhard Jung, der Verfasser dieses Beitrags, im Gespräch mit Margarethe von Trotta, der Regisseurin des Spielfilms „Rosenstraße“ (2015)
kommentierte Max Liebermann (1847- 1935), der jüdische Maler und hochgeach- tete Präsident der Preußischen Akademie der Künste, der exponiert neben dem Branden- burger Tor wohnte: „Ick kann ja nich so viel fressen, wie ick kotzen möchte.“
Berlin entwickelte sich in der unsicheren Zeit der Weimarer Republik zunehmend zur Hauptstadt von Verbrechen. Nicht nur in Al- fred Döblins Großstadtroman „Berlin Ale- xanderplatz“ (1929) erscheint die Weltme- tropole als Sündenbabel. In Hitlers Reich wurde sie zum Zentrum von Gewalttätern (Massenmördern), Opfern und Widerstands- kämpfern, deren Aktivitäten heutzutage in zahlreichen Museen und Gedenkstätten do- kumentiert werden. Charakteristisch sind die
Büste des verdienstvollen Politikers Matthias Erzberger (Unter den Linden 71), der in einer Hetzkampagne als „Novemberverbrecher“ und „Erfüllungspolitiker“ (Unter- zeichner des Versailler Ver- trags) verleumdet und 1921 von Rechtsradikalen ermordet wurde
nach Selbst- entfaltung, re- lativem Wohl- stand und Le- bensgenuss. Frauen streb- ten nach Emanzipation und Gleichbe- rechtigung – mit Bubikopf, kesser Mode und bisher nicht bekann- ter Freizügig- keit. Die Film- industrie setzte weitreichende Impulse mit Zukunftsvisio- nen und fan- tastischen Ge-
dankengängen. Man war hungrig aufs Leben – mit Tanz, Unterhaltung, unbändiger Neu- gier und Experimentierlust. Insbesondere in Berlin wurde Nacktheit kultiviert, ganz be- sonders in Varieté-Theatern und Barbetrie- ben, wo Nackttänzerinnen wie Anita Berber oder Josephine Baker ihre körperlichen Rei- ze, Selbstbewusstsein und Kühnheit zur Schau stellten. Die Aufbruchstimmung wur- de aber immer wieder jäh unterbrochen von
Das Max-Liebermann-Haus neben dem Brandenburger Tor
alptraumhaften Tiefpunkten: Die unerträgli- chen Kriegsfolgen, vor allem für heimkeh- rende Soldaten und Invaliden, bewirkten Tra- gödien des Alltags, Arbeitslosigkeit, sozialen Abstieg, Hunger und Angst. Hinzu kamen Inflation, links- und rechtsradikale Exzesse, Putsch- und Umsturzversuche, häufige Stra- ßenschlachten, politische Attentate, die na- tionale Demütigung durch den Versailler
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